Der Komponist Christian Jost im Portrait

Wege ins Innere

Christian Jost (geboren 1963) ist ein musikalischer Weltbürger. Dass er in der Hochburg der Neuen Musik in Köln studiert hat, dann aber in die USA ans San Francisco Conservatory of Music ausbrechen musste, ist bereits ein Hinweis zum Verständnis seiner Werke.

Christian Jost wuchs in einer Zeit auf, in der die sogenannte ernste Musik stärker ideologisiert war als heute. Die Generation um Pierre Boulez, dem „heiligen Geist“ der Avantgarde, befand sich auf dem Höhepunkt ihres Einflusses. Noch 1957 – keine sechs Jahre bevor Christian Jost geboren wurde – hatten Karl Heinz Stockhausen, Luigi Nono und Pierre Boulez die Uraufführung von Hans Werner Henzes „Nachtstücke und Arien“ verlassen, weil die Musik in ihren Ohren romantisierend und reaktionär klang. Christian Josts Bekenntnis zum Erzählerischen in der Musik, zum Wohlklang und zum direkten Ton entspringt dem Bedürfnis, sich von jeglichen ideologischen Zwängen zu befreien.
Christian Jost hat sich schon früh mit Minimal Music, mit Filmmusik, mit Jazz, ja auch mit Popmusik beschäftigt. In seinem Oratorium „Angst“ webt er kunstvoll eine E-Gitarre und einen E-Bass in den Orchesterklang. Eines seiner jüngeren Werke, „Nocturnal Movements“ (Nachtstücke) entstand für 13 Instrumentalisten der Berliner Philharmoniker. Der Jazzpianist Michael Wollny spielte den solistischen Klavierpart mit viel Raum für musikalische Improvisation.

Entscheidend für Christian Josts Kompositionsweise sind aber nicht die musikalischen Vorbilder oder Gegenpositionen, sondern die Entwicklung einer eigenen Sprache. Jost gebraucht dafür den Begriff des Dritten Wegs, eine postmoderne Kompositionstechnik, die im Jazz als Modern Creative bezeichnet wird: „Für mich war es von Anfang an das Ziel, den Dritten Weg zu gehen. Nicht Donaueschingen, nicht die tonalen Amerikaner, nicht Boulez oder Stockhausen und auch nicht Reimann oder Henze. Der dritte Weg bestand darin, aus der Verbindung von Ligetis „Atmosphères“ und „Bitches Brew“ von Miles Davies eine eigenständige kompositorische Form zu etablieren. Nicht hier ein bisschen Jazz, da ein bisschen Klassik und hier ein bisschen musikalische Avantgarde, sondern eine Musik, die dem Hörer das Gefühl der strukturierten Improvisation vermittelt. Es geht um die Freiheit des Jazz und die Struktur der Klassik.“
Jost verwendet die musikalischen Errungenschaften der Neuen Musik, vermischt sie mit scheinbar gegensätzlichen musikalischen Elementen und bringt beides in eine durchhörbare Struktur. Obwohl die Musik notiert ist, bekommt der Hörer das Gefühl, sie entstehe frei und spielerisch aus dem Moment heraus. Diese Technik der kalkulierten Unmittelbarkeit macht die Sogwirkung seiner Kompositionen aus.
Der Komponist arbeitet ohne Particell, also ohne Skizze einer Partitur. Er notiert musikalische Ideen auf einem Notenblock und schreibt dann die Stimmen in den Computer. Jost komponiert nach eigenen Worten „direkt am Klang“. Seine Musik klingt voll. Sein Ideal von Komposition besteht darin, organisch zu sein. Das ist durchaus im biologischen Wortsinn zu verstehen. Manche Phrase entwickelt sich so, wie sich ein Farn entrollt. Josts Musik wächst oft aus kleinen Zellen, sie wuchert, sie fließt, sie pulsiert.

Echoräume: Die Konzerte

Christian Jost hat ein umfangreiches Oeuvre an Kammermusik- und Konzertwerken vorgelegt. Mehrfach beauftragten ihn die Berliner Philharmoniker und das Konzerthausorchester Berlin. Ein intensiver Kontakt besteht zum Shanghai Symphony Orchestra, mit dem Jost als Pianist auftrat und mit dem er bis heute als Dirigent eigener Werke eng verbunden ist. Durch seine gewachsenen Beziehungen in den Kulturbetrieb und durch die rasante mediale Verbreitung seiner Werke ist Christian Jost zu einer festen Größe im asiatischen Klassikmarkt geworden.

Auch wenn sich der Komponist gegenüber traditionellen taiwanesischen Instrumenten und einem asiatischen Idiom geöffnet hat (wie im 2014 uraufgeführten Musiktheater „Lover“) bleibt das klassische Sinfonieorchester sein genuines Ausdrucksmittel. Zentral für sein Verständnis als Komponist ist das „Konzert für Orchester“, das 2007 im Auftrag des Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR entstand. In den Sätzen „Fluchten“, „Oasen“, „Strom“ und „Glas“ zeichnet Jost eine expressive symphonische Landschaft, die voller Gegensätze und überbordender Einfälle ist und das Orchester als konzertierenden Solisten begreift.

Bei seinen Solokonzerten ragt die „Requiem-Trilogie“ heraus. Dem „DiesIrae“ für Posaune und Orchester (UA 2001 Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken) sowie dem Konzert „LuxAeterna“ für Altsaxophon und Orchester (UA 2003 Het Residentie Orkest Den Haag) stellt Jost sein Trompetenkonzert „Pietà“ voran, das „in memoriam Chet Baker“ geschrieben ist (UA 2005 Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz). In „Pietà“ nimmt der Komponist die musikalische Impulse Bakers, die Eleganz seiner musikalischen Linien, aber auch die Zerbrechlichkeit seines Tons auf und entwickelt sie im Sinne des New Creative weiter. Das Stück schafft einen Echoraum, der sich als eigenes Kunstwerk von seinem Vorbild löst.

Ein episches Gegenstück zum „Konzert für Orchester“ ist die „BerlinSymphonie“ (UA 2015 Konzerthausorchester Berlin). Das Werk ist erlebbar wie ein Gang durch die nächtliche Metropole. Man hört die Jazzbars, den Verkehr, man sieht die nächtlichen Lichter, aber auch die einsamen Hotelzimmer und die letzten Taxis in der Morgendämmerung. Wie Gustav Mahler in seiner ersten Sinfonie die Natur beschreibt, berichtet Christian Jost von der Großstadt als einer neuen, urbanen Landschaft. Josts Musik ist voller Gegenwart: Im Gewand einer klassischen Sinfonie mit Geigen aus altem Fichtenholz, mit Flöten aus Silber und mit kupfernen Pauken erzählt der Komponist von Hochhäusern aus Stein und Glas, von Handys und Computern und vom Dröhnen der Beats in den Clubs.

Gegenwelten: Die Opern

Christian Jost hat als Opernkomponist unter anderem für die Oper in Zürich, die Rheinoper in Düsseldorf, die Vlaamse Opera Antwerpen/Gent und das Aalto Theater in Essen gearbeitet. Als Intendant der Komischen Oper band Andreas Homoki den Komponisten für mehrere Auftragskompositionen ans Haus. Mit „Egmont liegt nun Josts neuntes Musiktheaterwerk vor. Noch dieses Jahr kommt „Eine Reise der Hoffnung“, „Voyage vers l’espoire“ – ein Flüchtlingsdrama nach dem gleichnamigen Film von Xavier Koller – an der Oper in Genf zur Uraufführung.

Josts Opernschaffen ist untrennbar mit seiner Frau, der Mezzosopranistin Stella Doufexis, verbunden, die im Dezember 2015 mit 47 Jahren verstarb. Für sie komponierte er die Titelpartie seiner Oper „Hamlet“ (UA 2009 Komische Oper Berlin). Seine Kenntnis der Stimme und der Bedürfnisse des klassischen Opernsängers haben sich durch den täglichen Kontakt mit der Sängerpraxis immer weiter ausgebildet.

Christian Josts Inspirationsquellen für das Musiktheater sind zahlreich. Deutlich ist seine Affinität zum Film. Er schätzt die klare Erzählweise, die stringente Dramaturgie und die Bildmacht des nord- und mittelamerikanischen Kinos. Josts Werke spiegeln die atmosphärische Dichte der Filme, die Spannung zwischen realer, gegenwärtiger Geschichte und ihrer mythischen, oft surrealistischen Überhöhung.

Zugleich gibt es immer etwas, das die vermeintliche Klarheit und den Realismus der Geschichten unterläuft. Seine Oper „Rumor“ (UA 2012 Vlaamse Opera Antwerpen) basiert auf dem Buch „Der süße Duft des Todes“ des mexikanischen Autors Guillermo Arriaga, der die Drehbücher von „Babel“ und „21 Gramm“ geschrieben hat. „Rumor“ handelt davon, wie in einer heißen, trockenen Gegend in Mexiko durch Gerüchte, Rachegelüste und Gruppenzwang aus einem Mord ein zweiter hervorgeht. Die Oper ist auf den ersten Blick ein Krimi in Spielfilmlänge mit klaren Mordopfern. Auf den zweiten Blick ist es das Psychogramm eines von Sehnsüchten und Ängsten getriebenen Mannes. Jost arbeitete ein Jahr daran, die Geschichte so zum Libretto einzurichten, dass sich die Handlung auch im Kopf des Protagonisten abspielen könnte. Nach jeder Szene kann es anders weitergehen. Was bestimmt unser Leben: Die innere oder die äußere Wirklichkeit?

Dem Bedürfnis Gegenwelten zu erschaffen, kommt das Schauspiel „Die arabische Nacht“ von Roland Schimmelpfennig entgegen, aus dem Jost seine gleichnamige Oper machte (UA 2008 Aalto Theater Essen). Das Stück spielt in einem Mietshaus während einer heißen Sommernacht. Es ist ein vertrautes und zugleich fremdländisches Kaleidoskop im Stile von „1000 und einer Nacht“, ein offener, erotischer Reigen, dessen Figuren sich in Vergangenheit, Gegenwart und (Alb-)Traum begegnen. Das Orchester aus 18 Musikern ist geteilt, so dass eine „Klangarena“ (Jost) entsteht: Eine Versuchsanordnung, bei der sich Melodien, Rhythmen und Cluster widersprechen, befragen und ergänzen und von der die multiperspektivische Dramaturgie des Stücks ihren Ausgang nimmt.

Das Erschaffen neuer Handlungsräume hängt also eng mit Josts Kompositionsweise zusammen. Deutlich wird dies in seinem Chor-Oratorium „Angst“. Die Verwendung von Hölderlin-Versen und der Untertitel „5 Pforten einer Reise in das Innere der Angst“ machen klar, dass es nicht um das bloße Nacherzählen der Geschichte des Bergsteigers geht, der seinen Kletter-Partner vom Sicherungsseil abschneiden musste, um sein eigenes Leben zu retten. Den verschneiten Bergen ausgeliefert, so scheint es, wird der Körper klein und die Innenwelt breitet sich aus: Der fünfte Satz von „Angst“ besteht aus einem 64-stimmigen a cappella Satz. Er führt buchstäblich in die weitverzweigten Nervenbahnen des Protagonisten, in denen vielfältige Stimmen seine Angst, seine Schuldgefühle, aber auch seinen Überlebenswillen zum Ausdruck bringen.

In einem Interview zu seiner Oper „Hamlet“, die genauso mit inneren (Chor-)Stimmen arbeitet, sagte Jost: „Ich glaube nicht, dass unser Bewusstsein chronologisch funktioniert. Wir nehmen die Geschehnisse, in die wir verstrickt sind, nicht als geordnetes Nacheinander von Vorfällen wahr, sondern erst im Nachhinein können wir aus den Mosaikteilen unseres Erlebens ein Ganzes konstruieren. Und das versuche ich, zur Grundlage der Struktur meines Stücks zu machen. Ich will der Darstellung zusätzliche Ebenen geben, die einen Hauch des Unerklärlichen einbringen.“

Gedankenströme: Egmont

„Egmont“ nimmt in seiner formalen Geschlossenheit (fast alle Szenen sind musikalisch miteinander verbunden), dem ungewöhnlichen Einsatz stark klingender Instrumente (Vibraphon) und der realistisch-surrealistischen Geschichte einige Elemente aus vorigen Werken in sich auf. In seinem Stoff und in seiner Aussage jedoch ist es das Werk etwas ganz Neues. Christian Jost hat noch kein Theaterstück der deutschen Klassik in eine Oper verwandelt. Auch die idealistische Färbung des Stücks – die Diskussion um die Rechtmäßigkeit von Herrschaft im Namen der Religion – trifft man bei seinen früheren Werken nicht an. Die Modernität der Frage nach Glaubens- und Meinungsfreiheit und der Ruf nach einer selbstbestimmten, verfassungsgebundenen politischen Ordnung wird heute angesichts antidemokratischen Tendenzen von rechts, aber auch einem sich verengenden Meinungskorsett von links auf erstaunliche Weise aktuell.

Entscheidend für die Anlage des Stücks auf das Libretto von Christof Klimke ist der Eingangschor. Der Vorhang hebt sich über einem „dampfenden Schlachtfeld“. Musikalisch stellt Jost den Blutnebel mit sphärischen Klängen dar. Das mit dem Bogen gestrichene Vibraphon, das Tremolo in den Geigen, das Glissandi der Celli, die Flatterzunge bei den Flöten entziehen dem Hörer die musikalische Orientierung und machen das Bodenlose der Situation deutlich. Hier werden die Konsequenzen aus Gewaltherrschaft und Inquisition, aber auch aus Aufruhr und Widerstand deutlich, über die später verhandelt wird.

Der Text, den der Chor in diesem Tableau singt, ist kein Schlachtengesang, sondern besteht aus neu zusammengestellten Sätzen des berühmten Briefes von Ludwig van Beethoven an die „Unsterbliche Geliebte“: „Mein Engel, mein Alles, mein Ich. Wo ich bin, bist du mit mir.“ Die Verse haben nichts mit einem militärischen Totengedenken zu tun, sondern klingen wie eine persönliche Erinnerung. Schlachtfeld und Seelenraum: Die erste Szene stellt exemplarisch die zwei ineinander verschlungenen Geschichten der Oper dar. Das politische Ringen um Freiheit, bei dem Egmont im Mittelpunkt steht, und der persönliche Kampf um den Erhalt einer Beziehung, bei der Clara die treibende Kraft ist.

Analog zu „Angst“ oder „Rumor“ lässt sich „Egmont“ auch als Reise ins Innere einer einzigen Figur verstehen. Die sphärischen Chöre, die poetische Referenzen an die Natur, das wiederholte Aufrufen des Briefs, die eng verwobene musikalische Struktur erinnern an einen „Stream of Consciousness“. Kommenden Regieteams ist es überlassen, „Egmont“ als politisches Ideendrama, als Liebesgeschichte oder als Traum zu inszenieren, in dem Liebe, Freiheit und Aufruhr miteinander verknüpft und aufeinander bezogen sind.

Joscha Schaback

© 2020 Christian Jost. Veröffentlichung nur mit Autorenangabe erlaubt.