Miserere

Klangstudie zum "Qui tollis" aus Mozarts Messe in c-Moll KV 427/417a

Anfangs sträubte sich alles in mir: ein neues Orchesterwerk mit hörbarem Mozartbezug! Beim Verwenden von Zitaten liegt die künstlerische Schwierigkeit in den zu schaffenden Zitatinseln. Es darf nicht folgendes passieren: Der Komponist schreibt seine Musik, und am Anfang oder Ende oder mitten darin erscheinen Bruchstücke des zitierten Werks. Hat der Hörer das erst einmal begriffen, wartet er ständig auf das nächste Erklingen des Zitates und empfindet den ganzen „Rest“ nur noch als Malstrom zum Wiedererkannten.
Ich habe in meinem Leben häufig Mozart gehört: Vieles, das ich einmal liebte und vielleicht auch wieder lieben werde, und manches, das ich wohl immerfort liebe. Zu letzterem zählt das Qui tollis aus dem Gloria der Messe in c-Moll KV 427/417a. Seitdem ich diese Musik zum ersten Mal gehört habe, bohrte sie sich tief in mich hinein und steckt bis heute tief in mir. Als ich den Entschluss fasste, Miserere zu komponieren, stand für mich unmittelbar fest, mit einem oder zwei musikalischen Modellen des Qui tollis zu arbeiten. Wie gesagt, ich habe bereits häufig Mozart gehört und auch gespielt, doch es war etwas Neues, mit Material aus einer seiner Kompositionen zu arbeiten – eine andere Qualität der Nähe als beim Hören oder Spielen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, als ob ich in seinem Kopf steckte, empfand über 200 Jahre altes Tonmaterial als brandneu, gerade erst erfunden, eben erst gehört, niedergeschrieben, angewandt, entwickelt, eingeschweißt und eingeflochten. Es wurde mein eigenes Material mit der gleichen ewig neuen Problematik: wo kommt es her und wo führe ich es hin? So steckte ich drin in seinem Kopf und war vielleicht so weit entfernt wie selten zuvor.

Christian Jost